2. Juni [1944]
… Gestern Abend wollte ich eine Stunde der nächtlichen Anbetung halten. Es war mir jedoch unmöglich. Ich konnte weder lesen noch denken. Und dann hat Jesus mir eine Anbetung… in einer passenden Vision gewährt.
Ich versuche, das Ambiente zu beschreiben; das fällt mir schwer, denn in Sachen Architektur tauge ich nichts und habe auch nie den Fuß in ein Klausurkloster gesetzt.
Ich glaube also, in der Binnenkirche eines strengen Klausurklosters zu sein. Ich sehe einen sehr hohen und weiten Bogen, der sich auf die äußere Kirche hin öffnet. „Öffnet“ ist nur eine Redeweise, denn das enge Gitter, das ihn ganz ausfüllt, ist noch undurchdringlicher gemacht durch einen dunkelroten Stoffvorhang, der von oben bis auf etwa 1 Meter über dem Boden herabhängt, das heißt, bis dahin, wo ein Mäuerchen sich erhebt, um das Gitter abzustützen.
In der Mitte des Gitters ist etwas wie ein Fenster, das heißt ein bewegliches Gitterstück, das man wie eine Tür aufschieben kann. Dahinter ist kein roter Vorhang, und zwischen den Gitterstäben lässt sich der Tabernakel, der sich in der äußeren Kirche befindet, erkennen. So können die Schwestern anbeten, und ich glaube, auch die hl. Kommunion empfangen, wenn sie auf der Bank knien, die sich in der Art einer Balustrade vor diesem Fenster befindet. Zu der Bank führen drei Stufen hinauf, damit man die Fensteröffnung bequem erreichen kann. Von der äußeren Kirche sieht man außer dem Tabernakel nichts. Vielleicht sind die Chorräume der Klöster so beschaffen.
Es ist nur ein schwaches Licht. Von den hohen, schmalen Fenstern dringt ein dämmeriges Licht herein; ich denke, es könnte abends oder frühmorgens sein, denn es ist sehr wenig Helligkeit. Der Chor – ich nenne ihn so, weiß jedoch nicht, ob das richtig ist – ist leer. Da sind nur die Chorstühle der Schwestern und die Bank vor dem Gitter. Ein Öllämpchen bildet einen kleinen gelben Stern in der Nähe des Gitters.
Es kommt eine hochgewachsene und gewiss magere Schwester herein, denn man sieht, dass trotz des weiten Mönchsgewandes ihr Körper sehr schlank ist. Sie geht auf die Bank zu und kniet dort nieder. Sie hebt ihren Schleier, den sie über das Gesicht gesenkt hatte, und da sehe ich ein junges, nicht gerade wunderschönes, aber doch anmutiges, sehr blasses, sanftes Gesicht. Zwei helle Augen – der Farbe mir grün-bräunlich erscheint – leuchten innig auf, als sie sie zum Tabernakel erhebt, und der schmale Mund öffnet sich zu einem sanften Lächeln. Das zwischen den weißen Binden länglich oval erscheinende Gesicht ist fast so weiß wie diese. Der schwarze Schleier fällt bis auf das schwarze Gewand herab, so dass von der knienden Gestalt nur das edle Antlitz, die langen wohlgeformten, zum Gebet gefalteten Hände und ein silbernes Kreuz über ihrem Brustschleier deutlich zu erkennen sind. Sie betet innig mit fest auf den Tabernakel gehefteten Augen.
Und jetzt das Schöne der Vision. Das Gitter, das ganze Gitter leuchtet auf, als ob sich hinter dem Vorhang ein helles Feuer entzündet hätte. Das Lämpchen, das vorher als ein heller Stern erschien, ist nun von dem zunehmenden Licht, das von immer leuchtenderem Silberweiß wird, wie ausgelöscht. So hell, dass die Augen nur noch das sehen. Das Gitter verschwindet in dem starken Glänzen. Und in diesem Glänzen erscheint Jesus. Jesus steht aufrecht in seinem schneeweißen Gewand und dem roten Mantel. Er lächelt, ist wunderschön.
„Marguerite!“, ruft Er, um die Schwester, die Ihn in der Ekstase wie gebannt anschaut, wachzurütteln. Er ruft sie drei Mal, immer sanfter, und immer stärker lächelnd. Hoch über dem Boden auf einem unter Ihm gebreiteten Lichtteppich kommt Er näher. „Ich bin es, Jesus, den du liebst. Fürchte dich nicht.“
Margaretha Maria (*) betrachtet Ihn selig und fragt unter Tränen: „Was wünschst Du von mir, Herr? Warum erscheinst Du mir?“
„Ich bin Jesus, der dich liebt, Margaretha, und Ich will, dass du die Menschen aufforderst, Mich zu lieben“.
„Wie kann ich das tun, Herr?“
„Schau her. Dann wirst du alles können, denn das, was du sehen wirst, soll dir Kraft und Stimme geben, die Welt aufzurütteln, um sie zu Mir zu führen. Hier ist Mein Herz. Schau her. Es ist das, welches die Menschen so sehr geliebt hat und von ihnen geliebt zu werden wünscht. Aber es wird nicht geliebt. Und doch wäre in dieser Liebe das Heil des Menschengeschlechtes. Margaretha, sag der Welt, dass Ich wünsche, dass mein Herz geliebt wird. Mich dürstet! Gib Mir zu trinken. Mich hungert! Gib Mir zu essen. Ich leide! Tröste Mich. Diese Mission soll deine Freude und dein Schmerz sein. Aber Ich bitte dich, sie nicht zurückzuweisen. Komm, komm zu Mir. Lehne dich an Mich. Küsse mein Herz. Dann wirst du vor nichts mehr Angst haben…“.
Margaretha Maria erhebt sich und schreitet entrückt auf Jesus zu. Das starke Licht lässt ihr Gesicht noch blasser erscheinen. Sie wirft sich Jesus zu Füßen.
Aber Er hebt sie auf, und indem Er sie so hält, öffnet Er mit Seiner Linken sein Gewand über der Brust, und es ist, als ob er mit dem Gewand Sein Fleisch öffne und das Göttliche Herz lebendig, pochend, unter Strömen von Licht, die den ärmlichen Chor entzünden, erscheint, die auch den menschlichen Körper der geliebten Jüngerin wie einen bereits vergeistigten erstrahlen lassen. Jesus zieht Seine Geliebte an Sich und stützt die vor Seligkeit fast ohnmächtig gewordene, und als Er sie wieder loslässt, stützt Er sie weiter mit liebevoller Fürsorge und führt sie auf den Boden zurück – denn Margaretha war auf der Lichtspur gewandelt, um zu Jesus zu gelangen – und lässt sie nicht los, bis Er sie wieder sicher auf ihrem Platz sieht. Darauf sagt Er: „Ich kehre wieder, um dir Meine Wünsche mitzuteilen. Liebe Mich immer mehr. Geh hin in Frieden“.
Das Licht saugt Ihn wie eine Wolke auf, um dann immer schwächer zu werden und schließlich zu verschwinden, und in dem nun wieder dunklen Chor glänzt nur noch das gelbe Sternchen der Lampe.
Das ist es, was ich geschaut habe. Und zu mir sagt Jesus: „Du hast nun die Donnerstags-Anbetung gehalten, am Vorabend des Herz-Jesu-Freitags. Welch schönere möchtest du haben?“ Er lächelt und verlässt mich.
__________________________
(*) Es ist Margaretha-Marie Alacoque (1647-1690), Ordensfrau der Heimsuchungsschwestern in Paray-le-Monial (Frankreich), die Apostelin der Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu, am 13. Mai 1920 von Papst Benedikt XV. heilig gesprochen.
†
Auszug aus “Die Hefte 1944″ von Maria Valtorta. Veröffentlicht mit der Genehmigung des Herausgebers Centro Editoriale Valtortiano srl. Isola del Liri (FR), www.mariavaltorta.com, dem die Rechte für die Werke Maria Valtortas gehören. Um die Bücher Maria Valtortas in deutscher Sprache zu erwerben bitte wenden an den Parvis-Verlag, 1648 Hauteville, Schweiz: book@parvis.ch, www.parvis.ch